Gender@Greifswald
Ringvorlesung des IZfG im Sommersemester 2021- 25 Jahre IZfG
Konzeption: Theresa Heyd, Heide Volkening, Maria-Friederike Schulze
In diesem Jahr feiert das IZfG seinen 25. Geburtstag – als "Interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien" wurde es am 19. November 1996 als erste Institution dieser Art in den ostdeutschen Bundesländern gegründet. Diesem Datum waren gemeinsame Bemühungen engagierter Wissenschaftler*innen sowie der Gleichstellungsbeauftragten der Hochschulen und Fachhochschulen vorangegangen. Die damalige Kultusministerin Regine Marquart gab schließlich den entscheidenden Impuls. Heute blickt das IZfG auf eine erfolgreiche Geschichte, eine lange Reihe unterstützter Forschungs- und Tagungsprojekte, zahlreiche Publikationen und Veranstaltungen zurück. Inzwischen hat sich mit dem Basisfach Gender Studies in den Bachelorstudiengängen der Philosophischen Fakultät auch ein Studienangebot im Rahmen der Optionalen Studien etabliert.
Wir möchten das Jubiläum zum Anlass nehmen, die aktuelle interdisziplinäre Vielfalt der Geschlechterforschung in Greifswald in einer gemeinsamen Veranstaltung sichtbar zu machen und stärker zu vernetzen. Forschende und Lehrende des Historischen Instituts, des Instituts für Politik- und Kommunikationswissenschaften, des Instituts für Deutsche Philologie, der Medizin, der Musikwissenschaft, des Instituts für Erziehungswissenschaft und des Instituts für Anglistik und Amerikanistik stellen Aspekte ihrer Arbeit im Rahmen der Ringvorlesung Gender@Greifswald vor. Für Studierende aller Fakultäten bietet diese Vorlesungsreihe die Möglichkeit, sich über das heterogene Feld der Geschlechterforschung in seiner interdisziplinären Breite zu informieren.
Hier finden Sie Informationen zu den einzelnen Vorträgen:
Dr. Heide Volkening, Prof. Dr. Theresa Heyd, Maria-Friederike Schulze (IZfG)
Prof. Dr. Corinna Kröber, Politikwissenschaft
Gibt es heute noch eine gläserne Decke für Frauen in der Politik? Welche Abgeordneten setzen sich für die Belange von Frauen ein und warum? Und wie verändert sich Politik, wenn mehr Frauen mitwirken? So lauten einige Schlüsselfragen der empirischen politikwissenschaftlichen Geschlechterforschung. In diesem Vortrag erläutere ich, wie meine Forschung zu deren Beantwortung beiträgt. Dazu lege ich beispielhaft drei aktuelle Forschungsprojekte dar, beschreibe deren Forschungsdesign und Ergebnisse.
PD Dr. Irene Erfen, Germanistik
Boccaccios lateinisches Handbuch antiker Frauenviten wird in der europäischen Literatur bis in die Neuzeit vielfältig übersetzt, ausgeschrieben und illustriert. Die Rezeptionen isolieren einzelne Aspekte und Diskurse des Werks, konzentrieren sich häufig auf den ‚Frauenfeind‘ Boccaccio, wie er in Baldessare Castigliones ‚Libro del cortigiano‘, einem höfischen Vademecum des 16. Jahrhunderts, genannt wird oder entnehmen mit divergierender Zielsetzung und Funktion Material. Dieser z. T. konträre Gebrauchswandel, eine im Übrigen für das gesamte Spätmittelalter sowie die Frühe Neuzeit zu beobachtende Erscheinung, ist angelegt in der Struktur der ‚Berühmten Frauen‘ als mythographischem Lexikon und anthropologischer Darstellung des weiblichen Geschlechtscharakters. Der Vortrag beschäftigt sich mit einigen der produktionsästhetischen Mittel, die Boccaccios misogyne Regie einsetzt, um die Akzeptanz seines moraldidaktischen Konzeptes zu befördern oder - in der aristotelisch-horazisch geprägten poetologischen Terminologie – um die Wahrscheinlichkeit seiner Darstellung und ihrer normativen Forderungen zu erweisen.
Prof. Dr. Cordelia Heß, Geschichte
Im gesamten Ostseeraum verfolgen konservative und neu-nationalistische Akteure politische Themen, die unter dem Begriff Antifeminismus zu fassen sind: die Gesetzgebung zu Schwangerschaftsabbrüchen in Polen, die Männerrechtsbewegung in Schweden, Homophobie in Russland. Während in der deutschsprachigen Forschung vor allem über „Anti-Genderismus“ gesprochen wird, wobei primär Kämpfe um Begriffe und deren Besetzung gemeint sind, eröffnet der Blick auf Nord- und Osteuropa in historischer Perspektive ein umfassenderes Bild des antifeministischen Projekts neu-nationalistischer Akteure – und damit neue Impulse für die Definition von Antifeminismus insgesamt. Im Vortrag werden erste Forschungsfragen aus dem Cluster „Neue Nationalismen“ des Interdisziplinären Forschungszentrums Ostseeraum (IFZO) vorgestellt und diskutiert.
Dr. Elpiniki Katsari, Medizin
Es gibt zunehmend wissenschaftliche Belege, dass Erkrankungen bei Männern und Frauen mit unterschiedlichen klinischen Ausprägungen, in unterschiedlicher Häufigkeit und zu unterschiedlichen Zeitpunkten auftreten. Zudem ist die Therapie von Krankheiten, aber auch die Gesundheitsförderung und Präventionskonzepte bei Männern und Frauen nicht immer gleich wirksam. Mit der weltweiten Corona-Virus-Pandemie, sind die Herausforderungen für eine geschlechtersensible Medizin größer geworden. Neue Erfahrungen und Erkenntnisse sind hinzugekommen, die ohne Zeitverlust in die Gesundheitsversorgung implementiert werden müssen.
Dr. Susanne Froehlich, Geschichte
Die Erforschung weiblicher Lebenswelten in der Antike ist nach wie vor schwierig.In den literarischen Texten liegt die Deutungshoheit fast ausnahmslos bei männlichen Autoren. Anderes Quellenmaterial erweist sich als spröde: Grabinschriften nennen uns häufig nur Namen und Alter der verstorbenen Frauen, die allenfalls durch stereotype Rollenzuschreibungen als treu, keusch und eifrig handarbeitend charakterisiert werden.Weitgehend unsichtbare Frauen also? Eine Perspektive eröffnet sich dort, wo ein fester raumzeitlicher Rahmen die Kombination verschiedener Quellengattungen und damit einen multiplen methodischen Zugriff erlaubt. Am Beispiel der Region um Korykos und Seleukia im Süden der heutigen Türkei können spätantike Frauen nicht allein als Ehefrauen oder Witwen vorgestellt werden, sondern auch mit ihren Berufen zum Beispiel als Ärztin, Hebamme oder Diakonin. Eine besondere Bedeutung hat die lokale Heilige Charitine (†304), deren Kult in Korykos belegt,aber noch kaum erforscht ist. Die Märtyrerakten der Charitine lassen uns in lebhafter Schilderung an dem öffentlichen Prozess gegen die Heilige auf dem Marktplatz von Korykos teilhaben, wobei historische und fiktionale Elemente miteinander verwoben werden. Sogar mit einem raren weiblichen Selbstzeugnis kann der gewählte historische Chronotopos aufwarten: Die abenteuerlustige Pilgerin Egeria besuchte die Region um 380 auf der Rückreise aus dem Heiligen Land und hat ihre Eindrücke in einem Reisebericht festgehalten, der besonders auf eine Gemeinschaft von Asketinnen in Seleukia eingeht. Der Vortrag macht deutlich, dass sich in der Spätantike für Frauen neue Handlungsoptionen und Lebensentwürfe ergaben. Rollenvorbilder von keuscher Jungfräulichkeit oder Askese boten eine außerordentlich attraktive Alternative zu den familiären Geschlechterrollen als Ehefrau und Mutter.
Prof. Dr. Klaus Birnstiel, Germanistik
Mit der sog. „Frauenfrage“ hat sich die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, so lautet ein insbesondere nach ’68 oft erhobener Vorwurf, allenfalls am Rande befasst. Im Zuge der zweiten Welle des westeuropäischen Feminismus ergab sich die Diagnose einer gegenüber Geschlechterfragen strukturell blinden Theorie, welche die von Frauen mit zunehmendem Nachdruck gestellte Machtfrage zum dialektischen Nebenwiderspruch zu verharmlosen versuchte. Dass Geschlechterfragen in der Kritischen Theorie indes durchaus eine herausgehobene Rolle spielen, zeigt unter anderem ein Blick auf die „Minima Moralia“ Theodor W. Adornos und die Arbeiten Max Horkheimers. Der Vortrag setzt sich demgemäß zum Ziel, die Antworten der Frankfurter Schule auf die „Frauenfrage“ nicht nur zu historisieren, sondern auch ihre aktuellen und akuten Potentiale auszuloten.
Prof. Dr. Theresa Heyd, Anglistik / Amerikanistik
Technologische Innovation beeinflusst nicht nur unser gesellschaftliches Handeln, sondern auch Debatten darüber; das betrifft in jüngesten Jahren Bereiche wie die zunehmende Bedeutung von Künstlichen Intelligenzen, Maschinen und Maschinelles Lernen, Bild- und Stimmerkennung sowie die Verdatung des Alltags in vielen Facetten. Dabei rückt zunehmend in den Blick, dass auch diese vermeintlich maschinell gelenkten Prozesse zutiefst menschengemacht und von sozialen Praktiken beeinflusst sind. Dementsprechend sind algorithmische Prozesse und Verfahren der Bilderkennung nie neutral, sondern von gesellschaftlichen Diskursen und Biases geprägt (s. z.B. D’Ignazio und Klein 2020 zum Thema Data Feminism, Noble 2018 zu Algorithms of Oppression). Sprachwissenschaftler*innen wie Jones (2019) haben darüber hinaus auf die diskursive Tendenz hingewiesen, Algorithmen und künstliche Intelligenzen als menschlich zu konstruieren. Dieses Diskursfeld stellt somit einen zentralen Gegenstand für eine posthumane Linguistik im Sinne von Pennycook (2018) dar, die die Grenzbereiche von noch-nicht-menschlichem und mehr-als-menschlichem Sprechen auslotet und zur Debatte stellt. Gerade Repräsentationen und Rekonstruktionen von Geschlecht sind dabei analytisch relevant, da die Frage, wer oder was als menschlich gilt, schon immer auch eine Frage des Geschlechts war.
Dieser Vortrag erkundet die Zusammenhänge von Posthumanismus, geschlechtlicher Konstruktion und künstlicher Intelligenz am Beispiel des neuronalen Netzwerks This Person Does Not Exist (TPDNE; https://thispersondoesnotexist.com) und seiner Diskursivierung in den sozialen Medien. TPDNE erzeugt artifizielle, fotorealistische Porträtbilder von nicht existierenden Personen, die häufig kaum von realen Porträtfotos zu unterscheiden sind, oft jedoch auch „uncanny“-Effekte aufweisen, beispielsweise im Bereich der Gliedmaßen, Kleidungsstücke, Accessoires oder auch Nebenpersonen im Anschnitt. Während die URL lediglich zur Generierung der Bilder dient, findet durch Derivate in den sozialen Medien wie @wedontexisthere eine intensive Diskursivierung der Bilder statt. Das geschieht sowohl durch die Partizipationslogiken der Plattform (Liken, Retweeten, etc.), als auch durch Kommentare und Diskussionen. Im Vortrag werfen wir einen quantitativen und qualitativen Blick auf diese Diskurse. Welche Bilder erlangen digitale Sichtbarkeit, und über welche Mechanismen? Wie werden diese artifiziellen Porträts besprochen, und inwiefern werden dabei soziale Kategorien wie Geschlecht und Alter, aber auch visuelle Kategorien wie Norm/Schönheit und Abweichung davon sprachlich hergestellt? Wie gehen Nutzer*innen mit den Rändern des Menschlichen um, und welche Vorstellungen von digitaler Sichtbarkeit im posthumanen Zeitalter können wir daraus ableiten?
Dieser Vortrag knüpft an die IZfG-Ringvorlesung 2019/2020 zum Thema Digitale Sichtbarkeit an.
D'Ignazio, C. and Klein, L.F., 2020. Data feminism. MIT Press.
Jones, R.H., 2019. The text is reading you: Teaching language in the age of the algorithm. Linguistics and Education, p.100750.
Noble, S.U., 2018. Algorithms of oppression: How search engines reinforce racism. NYU Press.
Pennycook, A. (2018). Posthumanist applied linguistics. Applied Linguistics, 39(4), 445-461.
Prof. Dr. Konstanze Marx, Germanistik
Gleichstellung und Diversität erwecken den Eindruck diskursiv konkurrierender Konzepte. In einem kurzen Auftaktimpuls wird Konstanze Marx die Bedeutung dieser Begriffe spezifizieren – orientiert am konkreten Gebrauch der Wörter auf Internetpräsentationen von Gleichstellungsbeauftragten verschiedener Institutionen. Im Anschluss daran wird sie im Gespräch mit Theresa Heyd über Schnittstellen von Gleichstellung und Genderforschung sprechen. Dabei werden auch Verbindungen zwischen Konstanze Marx' sprachwissenschaftlichen Lehr- und Forschungsgebieten und ihrer aktuellen Funktion als Prorektorin für Kommunikationskultur, Personalentwicklung und Gleichstellung zum Thema.
Prof. Dr. Ines Sura, Medienpädagogik
Computerspiele sind mittlerweile als Kulturgut und Kunstwerke anerkannt und zudem längst keine „Jungssache“ mehr. Es können jedoch genderspezifische Unterschiede in der Nutzungsmotivation und in der Auswahl von Computerspieltiteln ausgemacht werden. Nach einem komprimierten Einblick in jene spezielle medienpsychologische Forschung, gibt diese Vorlesung einen Überblick über die Verarbeitung durchaus fragwürdiger Geschlechterstereotype innerhalb der Gaming-Culture. In einem abschließenden Ausblick werden künftige Möglichkeiten von inhaltlich und ästhetisch „gendergerechter“ Umsetzung und Darstellung im Plenum diskutiert.
Prof. Dr. Gesa zur Nieden (Musikwissenschaft)
Richard Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen wird seit jeher unter genderbezogenen Perspektiven betrachtet, wobei insbesondere Wagners Frauengestalten und androgyne Geschlechterkonzeptionen im Vordergrund stehen. Im Vortrag sollen diese Aspekte in der Produktion "Der Ring des Nibelungen als Peking-Oper" von Aziza Sadikova (Radialsystem Berlin 2019 und Seidenstraßen-Festival der Elbphilharmonie Hamburg 2020) analysiert werden, um ihre Rolle innerhalb zeitgenössischer ästhetischer Situierungen in einer kanonisierten Musikgeschichte und in einem von gesellschaftlicher Pluralität geprägten Musikleben zu beschreiben.
DIESER VORTRAG FINDET EINMALIG UM 18 UHR STATT.
Dr. Claire Massey, Anglistik
Through an examination of murals and installation art, this talk will introduce individual and collective artivist responses to femicide in one of the most violent border regions in the world. As we view each piece, we will consider how the work unifies and how the artist/s use their medium to create spaces of witness, memory, and survival.
In den vergangenen Jahren hat das Interdisziplinäre Zentrum für Geschlechterforschung (IZfG) regelmäßig im November das Forschungskolloquium "Gender im Fokus" veranstaltet. Ziel des Kolloquiums ist es, aktuelle Arbeits- und Forschungsvorhaben an der Universität Greifswald, die Aspekte der Gender Studies beinhalten, vorzustellen und zu diskutieren. "Gender im Fokus" ist ein universitätsweites, interdisziplinäres Austauschforum, das Projekten im Bereich der Geschlechterforschung zu mehr Sichtbarkeit und Resonanz verhelfen soll.
Anders als in den vergangenen Jahren soll die Veranstaltung anlässlich des 25-jährigen Jubiläums in die Ringvorlesung Gender@Greifswald im aktuellen Sommersemester eingebunden werden. Im Rahmen des letzten Termins der Ringvorlesung können aktuell laufende, aber auch geplante oder gerade abgeschlossene Dissertations- und Habilitationsprojekte sowie Abschlussarbeiten in einer digitalen Präsentation vorgestellt werden. Diese Präsentation kann im Anschluss auf der Homepage des IZfG eingestellt und auf diese Weise für eine größere Öffentlichkeit verfügbar gemacht werden.
Ablauf
16.15 Uhr
Begrüßung und Einführung (IZfG)
16.20 - 16.35 Uhr: Anna Kirchgatterer
"Zwei Dinge darf ein Schriftsteller nicht ablehnen: eine Einladung ins Fernsehen und eine Möglichkeit zum Sex." Männlichkeitskonstruktionen im Literaturbetriebsroman
Moderation: Heide Volkening
16.40 - 16.55 Uhr: Paula Reppmann
Substantielle Repräsentation durch weibliche Abgeordnete – Welche Rolle spielt die Intersektion von sozialer Klasse und Geschlecht?
Moderation: Theresa Heyd
17.00 - 17.15 Uhr: Darius Ribbe
A Systematic Review of Empirical Applications of Representative Claim Analysis
Moderation: Theresa Heyd
17.20 - 17.35 Uhr: Verena Liu
"... mit ebenso viel Tatkraft wie Liebe zu Musik". Leiterinnen privater Musikschulen in Sachsen und Mitteldeutschland 1870-1920.
Moderation: Heide Volkening
17.40 - 17.55 Uhr: Sebastian Paschen / Elpiniki Katsari
Gendermedizin. Status Quo an der UMG – ein Abbild.
Moderation: Heide Volkening
17.55 Uhr: Danksagung und Abschluss der Ringvorlesung