Flucht darstellen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Gender und Migration

Ringvorlesung im Wintersemester 2018/2019

Die diesjährige Ringvorlesung des IZfG widmet sich der Frage, wie Codierungen von Geschlecht in sprachlichen, literarischen und visuellen Darstellungen von Flucht und Geflüchteten zum Tragen kommen. In welchen Praktiken, Medien und Repräsentationsformen wird „den Flüchtlingen“ ein Geschlecht zugeschrieben? Wie reagieren Theater und Literatur auf solche Diskursmuster und auf den Fluchtalltag? Die 14-tägig stattfindenden Vorlesungen folgen diesen Fragen in historischer Breite, vom ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart, und aus verschiedenen disziplinären Perspektiven. Dabei geht es nicht zuletzt darum, die aktuellen Fluchtdiskurse und deren kulturelle Modellierungen in der globalen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu kontextualisieren.

23.10.2018 - Das Exil erinnern: Überlegungen aus Gender-Perspektive

Eröffnungsvortrag zur Ringvorlesung im Rahmen des Kooperationsjahres 2018 zwischen dem Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung (IZfG) und dem Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald

Doerte Bischoff (Hamburg): Das Exil erinnern: Überlegungen aus Gender-Perspektive
Die Aktualität von Flucht und Vertreibung hat zumal in deutschsprachigen Kontexten vielfach dazu veranlasst, an das historische Exil seit 1933 zu erinnern. Dabei stellt sich die Frage, wie diese Erinnerung gerahmt und perspektiviert wird: Welche Akteure und Repräsentanten des Exils kommen in den Blick? Welche Vorstellungen von Heimat und Zugehörigkeit werden aktualisiert? These des Vortrags ist, dass gerade durch die Fokussierung von Gender-Konstellationen traditionelle Gemeinschaftskonzepte problematisiert werden. Indem sie diese Perspektive einnehmen, eröffnen literarische Texte (bzw. Filme) der Gegenwart auch einen neuen Blick auf historische Exildokumente.

Doerte Bischoff ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg, wo sie auch die Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur leitet. Sie ist (Mit-)Herausgeberin des Internationalen Jahrbuchs Exilforschung und hat hier die Bände Sprache(n) im Exil (2014), Dinge des Exils (2014) sowie Ausgeschlossen. Staatsbürgerschaft, Staatenlose und Exil (2018) mit konzipiert. Weitere Publikationen im Bereich Exilforschung: Exil – Literatur – Judentum (München 2016); Literatur und Exil. Neue Perspektiven (Berlin 2013).

Moderation: Heide Volkening

13.11.2018 - Blöße-Geben. Re-Inszenierungen von Scham im transkulturellen Theater

Julia Prager (Dresden): Blöße-Geben. Re-Inszenierungen von Scham im transkulturellen Theater
Die Scham ist die Grundgeste des Theaters: Denn das Theater gründet auf jenem exponierenden Schritt, den der Einzelne tut, wenn er aus dem Chor, dem Kollektiv, hervortritt und sich den Blicken der anderen aussetzt. Gleichzeitig lässt sich diese Bewegung nicht von einer merkwürdigen Doppeldeutigkeit lösen, insofern das Hervortreten immer auch einer Überhöhung des Selbst über jene anderen gleichkommt. Auf diese Weise wird das Theater zum Spielort von Scham, wo Grenzverschiebungen zwischen Beschämen und Bloßstellen permanent statthaben. In dieser prekären Situation des gegenseitigen Ausgesetztseins, das die Spielenden ebenso wie die Schauenden, auch das Publikum, einschließt, entfaltet sich das ethisch-politische Spiel des transkulturellen Theaters (Heeg), das den Grenzverkehr selbst in Szene setzt und dabei unerwartete Relationen zwischen den Teilhabenden herstellt – so fremd sie sich in Bezug auf kulturelle, geschlechtliche, religiöse etc. Zuschreibungen auch sein mögen.
Am Beispiel aktueller Theatertexte und Inszenierungen möchte der Vortrag dieses Spiel mit der Scham und das damit verbundene ethisch-politische Potential ihrer Re-Inszenierung vorstellen. Dabei wird insbesondere die Relation von Fremd-Sein und geschlechtlicher Codierung im Kontext von Darstellungsweisen von Fliehenden und kulturell Anderen in den Blick kommen. Beispielsweise soll danach gefragt werden, wie Jelineks Schutzbefohlenen-Texte und ihre Inszenierungen das Spiel mit der Scham vorantreiben, wenn sie u.a. über das schamlose Ausstellen der Monatsblutung fliehender Frauen das scheinbar unbeteiligte Schauen im Verfolgen von Nachrichtensendungen zum Theater der Beteiligung im Sinne einer unhintergehbaren Relationalität umcodieren.

Julia Prager arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin (OTPP) am Lehrstuhl für Medienwissenschaft und Neuere deutsche Literatur an der Technischen Universität Dresden. 2013 erschien ihre Studie Frames of Critique. Kulturwissenschaftliche Handlungsfähigkeit ›nach‹ Judith Butler bei Nomos in Baden-Baden.

20.11.2018 - Räume der Entrechtung. Salcedo, Schlingensief und das Problem der Staatenlosen

Maud Meyzaud (Frankfurt/M.): Räume der Entrechtung. Salcedo, Schlingensief und das Problem der Staatenlosen
Von Hannah Arendts bahnbrechenden Ausführungen in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ist der Befund zu datieren, dass die Lage der Flüchtlinge weniger temporär krisenhaft denn fester Bestandteil der modernen politischen Raumordnung Europas ist. Arendt analysiert dort, wie die Nationalstaatlichkeit den Flüchtling – den Staatenlosen – als Figur des Ausschlusses regelrecht produziert. Beide künstlerischen Arbeiten, die im Vortrag thematisiert werden – Christoph Schlingensiefs inzwischen geradezu kanonische Aktion Bitte liebt Österreich (2000) vor der Wiener Staatsoper, Doris Salcedos Installation Schibboleth (2007-2008) in der Tate Modern –, befragen kritisch diese politische Raumordnung auf das demokratische Versprechen uneingeschränkten Einschlusses hin, das derart systematisch verfehlt wird. Zwar werden in beiden Fällen aus theoretisch zwingenden Gründen – aufgrund der von Arendt analysierten Aporie, die am Menschenrecht haftet, – zunächst Flüchtlinge als absolut Rechtlose, frei von Geschlechterdifferenz, Klassenzugehörigkeit, Alter angesprochen. Beim näheren Hinblicken der jeweiligen künstlerischen Dispositive ergibt sich jedoch ein Zugang zur Kodierung von Geschlecht: Analysiert werden zum einen Elfriede Jelineks poetische Zusammenarbeit mit den Bewohnern des Containers im Rahmen von Schlingensiefs Aktion, zum anderen der politische Eingriff von Salcedos Kunstinstallation in die Mechanismen einer (männlich-) westlichen Kunstinstitution und ihrer modernen Mäzene.

Maud Meyzaud ist Literaturwissenschaftlerin und habilitiert sie sich zur Zeit an der Goethe-Universität in Frankfurt a.M. mit einem Projekt zur Genese der Romantheorie aus dem Dialog um 1800. Jüngste Veröffentlichungen u.a.: „Baudelaire and the Literary Fabrication of the Poor““, in: SubStance 146, vol. 47, No. 2, 2018, S. 156-174; (Hg.; mit Rüdiger Dannemann und Philipp Weber): Hundert Jahre „transzendentale Obdachlosigkeit“. Georg Lukács’ Theorie des Romans neu gelesen. Bielefeld: Aisthesis (im Druck); „Das unsichtbare Denkmal. Über ‚So Little Time‘ von Rabih Mroué“, in: Monika Schmitz-Emans et al. (Hg.), Das Unsichtbare. Essen: Die blaue Eule 2018, S. 90-107.

04.12.2018 - Un/Sichtbarmachung von Körpern und Grenzen in medialen Fluchtdiskursen

Tanja Maier (Bremen):Un/Sichtbarmachung von Körpern und Grenzen in medialen Fluchtdiskursen
Die öffentliche Sichtbarkeit von Geflüchteten, von Fluchtbewegungen und von Grenzen ist offensichtlich über visuelle Medien vermittelt. Der Vortrag diskutiert visuelle Praktiken und Politiken der Sichtbarmachung von Körpern und Grenzen in aktuellen Mediendiskursen über Flucht und Migration. Im Vortrag wird zunächst das ästhetische und politische Konzept der Sichtbarkeit vorgestellt, dem in der Medienforschung als auch in den Gender und Queer Studies eine wichtige Bedeutung zukommt. Die Politiken der medialen Sichtbarmachung von Körpern, Grenzen und Fluchterfahrungen werden daran anschließend anhand von unterschiedlichem Bildmaterial diskutiert: der journalistischen Berichterstattung von deutschen Printmedien und Dokumentarfilmen, die auf Handyaufnahmen von Geflüchteten beruhen. Zentral ist die Frage, wie durch visuelle Praktiken spezifische Sichtweisen auf Flucht erzeugt werden, die wiederum mit Zuschreibungen von Geschlecht, Sexualität, Ethnizität und Religion verbunden sind.

Tanja Maier ist Vertretungsprofessorin für Kommunikations- und Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt vergleichende Kulturanalyse am Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung (ZeMKI) sowie am Institut für historische Publizistik-, Kommunikations- und Medienwissenschaft (IPKM) der Universität Bremen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Gender Media Studies, Cultural Studies, visuelle Kultur und Kommunikation und digitale Medien.

18.12.2018 - Zukunft machen wir später (Lesung und Gespräch)

Christiane Rösinger (Berlin): Zukunft machen wir später (Lesung und Gespräch)
„Es war 2015, der Spät-Summer-of-Love, alle wollten helfen, die Kanzlerin zeigte ein menschliches Gesicht, die Geflüchteten wurden noch mit Applaus auf den Bahnhöfen empfangen“, erinnert sich Christiane Rösinger zu Beginn ihres langen Essays Zukunft machen wir später. Meine Deutschstunden mit Geflüchteten von 2017. In 14 als Lektionen betitelten Kapiteln erzählt Rösinger von ihrer Tätigkeit als DaZ-Lehrerin in einer Kreuzberger Initiative, von Begegnungen mit Geflüchteten, pensionierten Lehrern und Wilmersdorfer Witwen, von den Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache und der Macht der Musik und dabei immer auch von der eigenen Situation prekärer (Kreativ-)Arbeit als Musikerin, Autorin und Lehrerin.
Christiane Rösinger wird ausgewählte Passagen ihres Buches lesen und darüber sprechen, wie sich in der Situation zwischen lehrenden deutschen Staatsbürger*innen und lernenden Geflüchteten ein ganzes Netz kultureller Erwartungen und Wahrnehmungen bildet, in dem auch Fragen der Geschlechterdifferenz immer wieder relevant werden.

Christiane Rösinger ist Autorin, Musikerin und Sprachlehrerin. 2017 erschien ihr Buch Zukunft machen wir später. Meine Deutschstunden mit Geflüchteten im Fischer-Verlag, aus dem sie lesen und über das sie sprechen wird.

08.01.2019 - Vor den Verhältnissen – Wie lässt sich schreiben an Zohra Drif, Algerien? Ein Brief von Hélène Cixous

Annett Busch (Trondheim): Vor den Verhältnissen – Wie lässt sich schreiben an Zohra Drif, Algerien? Ein Brief von Hélène Cixous
Hélène Cixous schreibt, nicht einen Brief, den sie nie geschrieben hat, an Zohra Drif. Der nicht geschriebene Brief ist Anlass eines Schreibens, das seine Form in der Schwebe hält. Fakten aufruft und Erinnerungen. Zohra Drif ist Anwältin im Ruhestand in Algier. Bekannt wurde sie als Mitglied einer Gruppe von Frauen, die während des Befreiungskrieges gegen Frankreich Bomben an populären öffentlichen Orten platzierte, etwa im Café, der berühmten Milchbar, 1956. Cixous schreibt von Zohra Drif als einer Frau, für die sie Bewunderung hegt. Von Entscheidungen und deren Konsequenzen, einem Leben, das für sie keine Option hätte sein können. Sie kennt Zohra Drif vom Schulhof, konnte aber nicht Teil einer Gruppe algerischer Mädchen werden, wonach sie sich sehnte. Eine unmöglich zu realisierende Flucht vor und gegen die Verhältnisse. Durch die Aktion, die Tat. Aktion, die sich für Cixous später im Denken, im Schreiben realisieren wird, für Drif im Protest, im Argument, im Organisieren, im Gerichtssaal.

Annett Busch arbeitet als freie Autorin, Redakteurin und Kuratorin. Sie co-kuratiert derzeit das mulitlokale Forschungs- und Ausstellungsprojekt Women on Aeroplanes, ein Projekt des Iwalewahaus Bayreuth, in Zusammenarbeit mit dem Museum of Modern Art Warschau, The Showroom in London und dem Center for Contemporary Art in Lagos (2017-2019). In diesem Kontext co-editierte sie eine Reihe von „Inflight“ Magazinen. Zuletzt gab sie das Buch „After Year Zero — Geographies of Collaborations“ (2015) heraus (zusammen mit Anselm Franke).

22.01.2019 - Flucht erzählen. Von Hannah Arendt bis Christian Petzold

Abschlussvortrag zur Ringvorlesung im Rahmen des Kooperationsjahres 2018 zwischen dem Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung (IZfG) und dem Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald

Eva Blome & Heide Volkening (Greifswald): Flucht erzählen. Von Hannah Arendt bis Christian Petzold
Eva Blome und Heide Volkening werden exemplarische Einblicke in literarische Versuche des 20. und 21. Jahrhunderts geben, Flucht narrativ zu gestalten. Hannah Arendts Essay Wir Flüchtlinge und Ruth Landshoff-Yorcks Kurzporträt Jean Paul Sartre nutzen den Spiegel männlicher Protagonisten und das literarische Spiel mit Pronomen, um von Erfahrungen zu erzählen, die nicht mehr als individuelle Erfahrung verstanden werden können. Dominant erscheint eine männliche Perspektivierung von Flucht in Anna Seghers Roman Transit ebenfalls nur auf den ersten Blick: Das Erzählen mannigfacher Fluchtgeschichten und der Entschluss zur Gemeinschaftlichkeit führen vielmehr zu einem kollektiven und – wie Christian Petzolds aktuelle Filmadaption von Transit betont – überzeitlichen Erleben von Verfolgung und Exil.

Eva Blome ist Juniorprofessorin für Gender Studies im Arbeitsbereich Neuere deutsche Literatur/Literaturtheorie am Institut für Deutsche Philologie der Universität Greifswald. Sie ist außerdem Vorstandssprecherin des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung (IZfG). Ihr aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Bildung und sozialer Ungleichheit in literarischen Texten um 1800.

Heide Volkening ist Mitarbeiterin am Institut für deutsche Philologie in Greifswald. An der Ludwig-Maximilians-Universität München hat sie 2015 ihre Habilitation zum Thema Charakter – Arbeit. Zur literarischen Produktivität des tätigen Menschen abgeschlossen. Seit 2016 ist sie im Vorstand des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung (IZfG) in Greifswald tätig. Gegenwärtig forscht sie zur Prekären Moderne.